Anlässlich der 13. Hamburger IT Strategietage am 05.02.2015 übergab DLR CIO Hans-Joachim Popp die
"Petersberger Erklärung" an Günther Hermann Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft

Petersberger Erklärung

Digitalisierung der Gesellschaft -

Selber gestalten statt sich überrollen zu lassen!

Die Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalisierten Prozessen schreitet mit einer bisher kaum für möglich gehaltenen Geschwindigkeit und Dynamik voran. Weil sie jeden Bereich unseres Lebens nachhaltig beeinflusst, wenn nicht gar radikal verändern wird, betrifft sie uns alle - von Unternehmen und Institutionen, Beschäftigten, Entscheidern und Unternehmern, Lehrenden und Lernenden bis hin zu uns als Bürger in unseren Rollen als Eltern, Nachbarn, Einwohner einer Stadt etc. Die Digitale Transformation wird zu Recht oft als die 4. Industrielle Revolution bezeichnet. Als solche ist sie fundamental und wird die Art und Weise massiv verändern, wie wir leben, arbeiten, denken und fühlen. Nicht zuletzt wird sie unser Wertgefüge beeinflussen – und damit die Kriterien, nach denen wir uns für oder gegen etwas entscheiden und wonach wir unser Handeln ausrichten.

 

Das Transformationstempo ist dabei so hoch, dass derzeit längst nicht alle gesellschaftlichen Bereiche als mündige Gestalter beteiligt sind. Im Gegenteil: Wichtige, über viele Jahrzehnte entwickelte gesellschaftliche Infrastrukturen, wie z. B. das Rechts- und Bildungssystem, der Wissensstand in Politik, Wirtschaft und Bevölkerung sowie die notwendigen Überwachungs-, Anpassungs- und Normierungsprozesse hinken der Entwicklung massiv hinterher. Die Folge sind nicht nur ungenutzte Chancen, sondern vor allem neue - zum Teil unverstandene und somit unkontrollierbare - Nutzungs- und Missbrauchsformen, die sich der Wahrnehmung des Einzelnen entziehen. Wir gehen davon aus, dass die bekannten Missbrauchsformen nur die Spitze des Eisbergs darstellen.

 

Der verantwortungsvolle Umgang mit der Digitalisierung erfordert die Etablierung neuer Grundfertigkeiten, deren Bedeutung mit der des Lesens und Schreibens durchaus vergleichbar sind. Deren Beherrschung ermöglicht nicht nur die Teilhabe an der Digitalgesellschaft, sie ist darüber hinaus die Voraussetzung für jede Form der Einflussnahme, Mitsprache und Mitgestaltung. Zum einen sind diese Fähigkeiten ein Mittel, um die enormen Chancen zu erschließen, die sich aus der Digitalisierung ergeben, zum anderen sensibilisieren sie gegenüber Risiken, die mit der Digitalen Transformation einhergehen.

 

Anlässlich der 10. Petersberger Gespräche, stimuliert durch Beiträge der Referenten und die Diskussion im großen Kreis wollen die Teilnehmer die Ergebnisse und Impulse in einer Erklärung zusammenfassen, die Weckruf und Aufforderung zur Mitgestaltung sein will. Die Erklärung soll ein Appell an die entscheidenden Institutionen sein, gleichzeitig aber auch jedem Einzelnen Anstöße dazu geben, wie er in seinem Wirkungskreis Einfluss nehmen kann.

 

Wir als Unterzeichner haben einen Katalog mit Vorschlägen zu den aus unserer Sicht dringenden Handlungsfeldern erstellt. Wir rufen dazu auf, in den nachstehend genannten Bereichen aktiv zu werden. Darüber hinaus erklären wir uns bereit, im Rahmen unseres Wirkungskreises und unserer jeweiligen Rolle die Umsetzung der folgenden Punkte zu unterstützen:

 

Gesellschaft und Politik
  • Top-Entscheider aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft müssen sich intensiv und öffentlich mit den Auswirkungen der Digitalen Transformation in sämtlichen Bereichen unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Die Unterzeichner stehen – auch unter Nutzung ihrer jeweiligen Kompetenzen – für diesen Diskurs bereit.
  • Die Digitalisierung muss fester Bestandteil der Agenda unternehmerischer Führungskräfte sein. Dies umfasst das notwendige Wissen zu den sozialen, rechtlichen und den technischen Auswirkungen dieser Entwicklung.
  • Der steigenden Bedeutung der Informationellen Selbstbestimmung für Bürger und Unternehmen, des Schutzes geistigen Eigentums und der drohenden Monopolisierung großer Teile der digitalen Wertschöpfung muss in den Fokus der Verantwortlichen und Entscheider sowie aller am Diskurs Beteiligten rücken.
  • Bildung: Die gesellschaftlichen Multiplikatoren (wie z. B. das Lehrpersonal in Schule und Ausbildung) müssen in die Lage versetzt werden, die Fähigkeiten für eine zukunfts-gerichtete, kritische und dabei kreative Auseinandersetzung mit der Digitalen Transformation zu vermitteln. Dabei sollte der Wert des Programmierens und seine Rolle als ”Sprache des 21. Jahrhunderts” für die kreative Gestaltung der modernen digitalen Welt eine zentrale Rolle spielen.
  • Unterstützung von partizipativen Organisationsformen in der Digitalwirtschaft, sodass der Einzelne sowohl Nutzer als auch Teilhaber sein kann (z.B. Genossenschaften), um eine breite ökonomische Partizipation an der Digitalisierung zu ermöglichen und um stabile Vertrauensstrukturen aufzubauen.
  • Transfer von bewährten und teilweise über Jahrzehnte geformten Werten des demokratischen Zusammenlebens in die digitalisierte Welt anstelle der bisher gelebten, hauptsächlich auf Verhinderung basierenden Strategien.
  • Etablierung einer neuen Ethik, um den ökonomischen Erfolg der Digitalisierung auf Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsens‘ langfristig abzusichern. Die wirtschaftlich starken Nationen wie Deutschland und supranationale Vertretungen (EU, UN,…) sind aufgefordert, ggf. nach dem Vorbild des Völkerrechts und des globalen Weltethos-Manifests, dies als Speerspitze voranzutreiben (z.B. durch entsprechende Abkommen zur Internet Kommunikation, Data Privacy, IP Protection, etc.).
Gesetzgebung und Rechtsprechung
  • Schnellstmögliche Befähigung der zuständigen Behörden und Institutionen z.B. durch die Bereitstellung adäquater technologischer Ausstattung und Schulung zur wirksamen Anwendung bestehender Gesetze hinsichtlich Digitalisierung und Datenverkehr, insbesondere unter Aspekten der Detektion und Prävention von Missbrauch.
  • Zügige Ergänzung / Änderung der deutschen und europäischen Gesetzgebung zur Beherrschung der im Zuge der Digitalisierung entstehenden, neuen Rechtsfälle. Dazu sind insbesondere existierende Rechtsbegriffe und Grundsätze systematisch so weiterzuentwickeln, das sie unter den neuen Bedingungen ihre ursprüngliche Intention wiedererlangen, anstatt – wie derzeit – verzerrte und lückenhafte Rechtslagen zu erzeugen. Dies muss in einem Tempo geschehen, das dem der Digitalisierung angepasst ist. Behinderungen der Verfahren zum Schutz gegen und zur Aufklärung von Missbrauch sind zu korrigieren. Nationale Regelungen sind dabei gegenüber einer grundsätzlich wünschenswerten internationalen Harmonisierung vorzuziehen, wenn hierdurch schneller gehandelt werden kann.
  • Aktive Mitwirkung beim Aufbau einer internationalen Regelung hinsichtlich der Modalitäten des weltweiten Datenverkehrs, z. B. nach dem Vorbild des seit 1944 in inzwischen 191 Ländern angewandten internationalen Luftfahrtverkehrsrechts (ICAO).

 

Technik

Die Akzeptanz der technologischen Entwicklung hängt in Zukunft auch davon ab, inwieweit es gelingt, die Benutzung von Soft- und Hardware für den Benutzer transparent und vertrauenswürdig zu gestalten. Daraus leiten wir Forderungen ab nach:

  • Gezielte Förderung der Erforschung und der damit einhergehenden Selbstverpflichtung zum Einsatz neu zu schaffender technischer Optionen zur Sicherstellung
    • der Transparenz bzgl. Datennutzung durch Dritte und bzgl. Systemverhalten auch für Laien, so dass die Informationelle Selbstbestimmung von jedem Nutzer von Hard- und Software auch tatsächlich realisiert werden kann.
    • der technologisch gesteuerten und gesicherten Einhaltung vorgegebener Zugriffsverfahren (die bislang nur organisatorisch regelbar ist, was stets Risiken mit sich bringt).
  • Gezielter Förderung „vertrauensorientierter“, das heißt transparenter, überprüfbarer und Missbrauch verhindernder Produkte und Dienstleistungen durch
    • Forschung, Entwicklung und gezielte Industrieförderung.
    • bevorzugten Einsatz solcher Produkte in europäischen öffentlichen Institutionen und Unternehmen.

 

Die Umsetzung dieser Aktivitäten verlangt von allen Beteiligten Energie, Engagement, Leidenschaft und Agilität. Wollen wir die Digitale Transformation nämlich wirklich mitgestalten, dann müssen wir alle damit so schnell wie möglich anfangen. Das gilt für die Diskussion und die Realisierung gleichermaßen. Vor allem muss das Thema dort platziert werden, wo es hingehört: ganz oben auf der Agenda.

 

Bonn, Januar 2015

 

gez. Stephan Huthmacher
gez. Dr. Hans-Joachim Popp
gez. Dr. Thomas Schmidt-Melchiors
gez. Detlev Hoch
gez. Dr. Johannes Helbig
gez. Dr. Thomas Endres
gez. Dr. Karsten Schweichhart
gez. Prof. Dr. Heinz-Otto Peitgen
gez. Ranga Yogeshwar
gez. Dr. Bernhard Greubel
gez. Gerd Becht
gez. Dr. Ralf Brunken
gez. Dr. Michael Gorriz gez. Elisabeth Höflich
gez. Mag. Ursula Soritsch-Renier
gez. Matthias Moritz
gez. Horst Rogusch
gez. Michael Nilles
gez. Peter Pohlmann
gez. Stephan Grabmeier
gez. Dr. Thomas Quiehl
gez. René Perillieux
gez. Prof. Dr. Dietmar Fink
gez. Philipp Lübcke
gez. Hans-Achim Quitmann
gez. Prof. Dr. Helmut Krcmar
gez. Robert Redl
gez. 顾晓峰
gez. Marit Conrath
gez. Friedhelm Rücker
gez. Frank Roth
gez. Wolfram Müller
gez. Werner Schwarz
gez. Dirk Müller
gez. 李志清
gez. Olli Hyyppa
gez. Kaan Marangoz
gez. Tunç Noyan
gez. Søren Birkstrøm
gez. Marek Niziolek
gez. Jürgen Stoffel
gez. Dr. Josef H. Richter
gez. Dr. Wolfgang Klein
Dr. Martin Elspermann